Hintergrund - 23.10.2024 - 14:30
Viele Unternehmen investieren in D&I-Initiativen, um inklusiver zu werden. Dennoch scheitern viele Initiativen daran, das Arbeitsumfeld wirklich inklusiv zu gestalten. Gerade bei der Inklusion von Menschen mit Behinderungen herrscht oft Unwissenheit und die Angst, etwas falsch zu machen. Was vor allem fehlt, ist der Dialog, sind sich die beiden Gesprächspartnerinnen Lina Maria Pietras und Louisa Riess einig.
Als Lina Maria Pietras an jenem Abend mit ruhiger Stimme begann ihre Lebensgeschichte zu erzählen, hing das Publikum an ihren Lippen. Es ist eine Geschichte, die geprägt ist von Höhen und Tiefen, von ihrem inneren Kampf und schliesslich von einem tiefen Ankommen bei sich selbst. In ihrem Buch «Herzauge» erzählt Lina Maria Pietras ganz offen von dieser Reise. Sie ist seit ihrer Kindheit stark sehbehindert und hat heute nur noch eine Sehkraft von 4%. Heute coacht und berät sie Führungskräfte und Unternehmen auf der ganzen Welt zum Thema Inklusion. Sie spricht von den Herausforderungen, die ihre Sehbehinderung mit sich brachte, von ihrem Wunsch als Kind «ganz normal» zu sein und von ihrer Überkompensation bis hin zum Burnout, um allen zu zeigen, was sie trotz ihrer Behinderung alles leisten kann. Louisa Riess, Forscherin am Center for Disability and Integration (CDI-HSG), führte durch das Gespräch und lieh dabei Lina Marie Pietras ihre Augen, um Passagen aus dem Buch vorzulesen. Gemeinsam sprachen die beiden darüber, wie wir alle unsere eigene Stimme finden und echte «Disability Allies» sein können.
Echte Partnerschaft in der Inklusion bedeutet für Lina Maria Pietras vor allem Zutrauen und Vertrauen. Das Schöne sei, dass viele Menschen helfen wollen. Jedoch erlebe sie im Alltag leider häufig Überfürsorge statt echter Hilfe. Sie erzählt von Menschen, die sie im Supermarkt fragt, wo denn die Butter sei, und die dann voller Eifer davonsprinten, um die Butter für sie zu holen, anstatt ihr einfach die Frage zu beantworten, damit sie selbstständig einkaufen kann. «Allyship» bedeutet also, dass wir Menschen mit Behinderungen zutrauen, dass sie wissen, was sie brauchen, und dass wir ihnen die Hilfe geben, die sie brauchen. Das bedeutet beispielsweise auch, so Louisa Riess, dass wir Menschen mit Behinderungen im Job nicht von vornherein von Projekten oder Reisen ausschliessen, sondern offen das Gespräch suchen.
Im Laufe des Gesprächs wurde immer deutlicher, wie zentral der Dialog für echtes Allyship ist. Denn Inklusion ist keine Einbahnstrasse. Viel zu oft, so betonte Lina Maria Pietras, gehen wir von Annahmen darüber aus, was Menschen mit Behinderungen brauchen, ohne zu wissen, ob diese denn wirklich zutreffen. Deshalb sei es wichtig, diese Annahmen zu hinterfragen und stattdessen offen zu fragen, was unser Gegenüber braucht. Auf der anderen Seite ist es genauso wichtig, dass Menschen mit oder ohne Behinderung ihre Bedürfnisse kommunizieren. Nur wenn wir uns mitteilen, können andere wirklich wissen, was wir brauchen und können wir wirklich inklusiv sein. Louisa Riess teilte dazu Ergebnisse aus einem aktuellen Forschungsprojekt zur Stimme von Menschen mit Behinderungen in Unternehmen. So sei das Mitgestalten und Mitteilen von Bedürfnissen nachweislich ein wichtiger Faktor für die Inklusionserfahrung von Menschen mit Behinderungen.
Am interdisziplinären Center CDI-HSG wird seit 15 Jahren zur beruflichen Inklusion von Menschen mit Behinderung geforscht. Die Forschung des CDI-HSG hat gezeigt, dass Inklusion allen Mitarbeitenden zugute kommt. Inklusive Unternehmen haben gesündere, leistungsfähigere und zufriedenere Mitarbeitende. Zur Gestaltung eines inklusiveren Arbeitsumfelds, so sind sich die beiden Gesprächspartnerinnen einig, sind Führungskräfte entscheidend – um den Dialog zu fördern und Erlebnisse und Emotionen zu besprechen.
Im Gespräch wurde auch deutlich, dass Inklusion komplex ist und dass wir alle Fehler machen. Manchmal ertappen wir uns dabei, wie wir schroff auf die Bedürfnisse anderer reagieren, Annahmen über andere treffen oder dann in eine überfürsorgliche Haltung verfallen. Dies, so wurde an diesem Abend klar, sollte uns aber nicht davon abhalten, weiterhin Verantwortung für uns und andere zu übernehmen. So betonte Lina Maria Pietras in ihrem Schlusswort, dass auch Allies wiederum Allies brauchen, die sie in ihrer Rolle als Inklusionspartner unterstützen und bestärken.
«Es ist wichtig, die Verantwortung für eine inklusive Gesellschaft auf alle Schultern zu verteilen. Wir sollten uns um die Menschen um uns herum kümmern und Verantwortung füreinander übernehmen. Genau wie für uns selbst. […] Denn wir alle sind einmalig und wertvoll. In uns steckt so viel. In dir, in mir, in allen Menschen um uns herum», schloss Louisa Riess die Gesprächsrunde mit einem Zitat aus Lina Maria Pietras Buch «Herzauge».
Ein Beitrag des Center for Disability and Integration (CDI-HSG).